Der Wunsch nach Konformität
Elias hatte den Griff der Haustür bereits in der Hand, um sie zu schließen, da bemerkte er plötzlich seine Nacktheit. Oben. Auf dem Kopf. Leicht panisch stieß er die Tür wieder auf und trat in seine Wohnung. Da lag er auf der kleinen weißen Kommode, da wo er hingehörte. Wie konnte er nur so vergesslich sein? Er schüttelte unwillig den Kopf und griff nach dem guten Stück. Das Aufsetzen aktivierte ihn augenblicklich und seine Smart Lens zeigte ihm den aktuellen Status an. Er spürte eine Welle der Erleichterung durch seinen Körper laufen. Alles war nun genauso, wie es sein sollte.
Als er auf die Straße trat, zeigte ihm seine Mixed Reality Brille das exakte Bild der Umgebung, angereichert mit wichtigen und nützlichen Informationen. Das Wetter war wieder extrem heute, wie jeden Tag. Obwohl es erst Mai war, brannte die Sonne mit gleißenden 19 Grad auf ihn nieder. Die Warn-App schlug vor, nicht länger als zehn Minuten im Freien zu verweilen. „Count down starten, 10 Minuten!“, sprach er in seine Smart Watch und sogleich lief eine Uhr rückwärts in seinem Sichtfeld herunter. Wie gut, dass es diese Warnungen gab, dachte er zufrieden, keine Ahnung, wie die Menschen das früher gemacht hatten.
Er blickte sich um. Menschen hasteten an ihm vorbei, sicher in Eile wegen der extremen Hitze. Da! Da war wieder einer! Er setze sich in Bewegung, um die Verfolgung aufzunehmen. Er hatte es deutlich gesehen, als der Mann an ihm vorbeigelaufen war: keine Anzeige hinten! Jeder wusste, was das bedeutete. Aber nicht mit mir, dachte er empört, den werde ich zur Rede stellen! Nach wenigen Augenblicken hatte er ihn eingeholt.
„Hey, du da, bleib stehen!“
Der Mann blieb tatsächlich stehen und drehte sich zu Elias um.
„Meinen Sie mich?“
„Wen denn sonst? Oder ist hier sonst noch jemand, der ohne Bekenntnis herumläuft?“
„Ach so, darum geht es. Ja, Sie haben recht, das geht natürlich gar nicht. Deshalb bin ich auf dem Weg zum nächsten Bürgerladen, er hat eine Fehlfunktion. Muss umgehend ausgetauscht werden.“
Elias scannte den Mann durch seine Brille. Jonas Hermann, 32 Jahre, Lieferdienst Fachkraft, wohnte ganz in der Nähe. Sah alles unverdächtig aus. Aber sollte er ihm so einfach glauben?
„Das kann ja jeder sagen. Kannst du das beweisen?“
„Na hör mal, wer bist du denn überhaupt, dass du mich hier so anmachst?“
„Nein Mann, ich stelle hier die Fragen. Sieh hin, dann kannst du erkennen, mit wem du es zu tun hast.“
Mit diesen Worten zeigte er nach oben, auf seinen Helm. Auf dem vorderen Screen waren nicht nur seine aktuellen Bekenntnisse zu sehen, sondern auch das Guter-Demokrat-Abzeichen in Gold.
„Na, was sagst du dazu?“, setze er stolz hinzu. „In Gold, wohlgemerkt!“
Der andere nickte anerkennend.
„Klasse, so weit bin ich noch nicht ganz, bin erst bei Silber. Das wird schon noch.“
„Nicht, wenn du mit deaktiviertem Screen durch die Gegend läufst. Ich überlege, ob ich es melden soll.“
„Lass mal stecken. Hier, der Beweis, dass es tatsächlich defekt ist.“
Er streckte den Arm mit seiner Watch vor, so dass Elias die Nachricht lesen konnte. Tatsächlich, ein Reparaturtermin im Bürgerladen.
„Na gut, da hast du noch mal Glück gehabt. Mach schnell, die warten sicher schon.“
Wortlos drehte der andere sich um und eilte weiter. Elias spürte, wie ein Dopaminschauer sein Belohnungszentrum erzittern ließ. Alles richtig gemacht! dachte er zufrieden. Wenn jeder so aufmerksam wäre wie ich, dann wäre die Welt ein besserer Ort. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jedem, dem er begegnete, genau auf das Display zu blicken. Denn die Helme, die aus Sicherheitsgründen jeder in der Öffentlichkeit tragen musste, waren vorne und hinten mit Displays ausgestattet, die aktuell zeigten, zu was sich dieser Mensch bekannte. Auch das war eine Sicherheitsmaßnahme, nämlich für die geistige und seelische Sicherheit. Denn so konnte verhindert werden, dass man sich versehentlich mit einem Klimaleugner oder gar einem Rechten unterhielt! Sicherheit war nun einmal das Wichtigste, deshalb waren die Helme eingeführt worden. Wie leicht konnte man stürzen, von einem Roller oder Fahrrad angefahren werden oder gegen einen Baum laufen. Die Regierung hatte die Helmpflicht in der Öffentlichkeit für alternativlos erklärt und er war einer der ersten gewesen, die sich ein Exemplar geholt hatten.
Die Displays zeigten an, welche Haltung der Helmträger zu aktuell wichtigen Themen hatte. Für das Klima etwa, oder Gegen rechts, das hatte fast jeder. Solidarität mit XXX, wobei XXX jeweils ein Land war, zu dem man sich bekennen sollte, manchmal waren es auch mehrere. Ja zur Regierung war auch sehr beliebt, ebenfalls Ich hasse Hass. Zu seinem Bedauern konnten auf den kleinen Displays nicht mehr als drei dieser Haltungsbekundungen dargestellt werden. Er hätte gerne Raum für mindestens zehn davon gehabt. Denn fast jede Woche gab es ein neues Thema, zu dem man sich bekennen konnte. Regierung und Medien publizierten die richtige Haltung zuverlässig über alle Kanäle. Er hatte die Idee eingereicht, dass man dieses aktuelle Thema quasi wie ein Abo automatisiert auf den Helm bekam, doch seine Anfrage wurde freundlich abgelehnt. Man sei der Meinung, dass hierfür eine echte persönliche Entscheidung nötig sei.
Sicher haben sie recht, hatte er sich gedacht. Nachdem es noch immer Leugner und anderes Gesindel gab war wohl ein echtes persönliches Bekenntnis das Beste. Schließlich wollte man ja genau wissen, mit wem man es zu tun hatte. Letzte Woche war Zweifeln, nein danke das Motto gewesen. Die automatische Meinungserhebung, die nun immer die gesamte Bevölkerung einbezog, hatte 92% Zustimmung ergeben. Unglaublich! Acht Prozent, die das nicht unterstützten! Wenn er von denen einen treffen würde, dem würde er es aber zeigen. Schon oft hatte er sich ausgemalt, was er mit einem solchen Demokratieleugner, einem dumpfen Schwurbler und Nonkonformisten anstellen würde. Wirklich oft. Noch hatte er keine Idee. Aber irgendetwas würde er machen, ganz bestimmt. Denn er hatte das Abzeichen in Gold. Er war immer bei der Mehrheit gewesen. So gut waren wenige.
«Das größte Gefängnis, in dem Menschen leben, ist die Angst davor, was andere denken.»
Was hat diese Geschichte mit Mut zu tun?
Tatsächlich handelt sie von einem inneren Bedürfnis, das jeder Mensch hat: dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Absolut jeder von uns ist Teil mehrerer Gruppen: Familie, Kollegen, Freunde, im Sport, Politik oder andere. Da wir höchst soziale Wesen sind können wir gar nicht anders. Um dazuzugehören verhalten wir uns in jeder Gruppe so, dass wir dazu passen. Wir beachten die ungeschriebenen Regeln. Dann droht kein Konflikt und erst recht kein Ausschluss. Unser Bedürfnis, dazuzugehören führt zum sogenannten Konformitätswunsch. Tatsächlich ist es eher der eigene Wunsch als der Druck von außen.
So weit, so normal. Doch was geschieht, wenn in der Gruppe Dinge gesagt oder getan werden, die mit den eigenen Überzeugungen nicht im Einklang sind? Dann entsteht Spannung. Zunächst die innere Frage: sage ich dazu etwas oder halte ich besser den Mund? Denn sich eine von der angenommenen Gruppenmeinung abweichende Meinung zu erlauben führt oft zu Konflikten. Genau hier kommt MUT ins Spiel: eben der Mut, zu sich, seiner Meinung und seinen Werten zu stehen. Nicht der Angst vor einer hitzigen Diskussion, einem potenziellen Konflikt, nachzugeben, sondern das Wagnis der Authentizität einzugehen.
Dazu kommt, dass die «Gruppenmeinung» meist gar nicht bekannt ist. Es werden stets nur diejenigen wahrgenommen, die am lautesten schreien oder kraft ihres erhöhten Status’ eine bestimmte Haltung verkünden. Da die Mehrheit stets schweigt erscheint dann dieser Standpunkt als der allgemein gültige. Doch unzählige Experimente zeigen, dass – sobald eine Person sich abweichend äußerst – stets andere zustimmen. Deshalb:
Sei Du die- oder derjenige, die/der den Mut hat, zu sich zu stehen!